Vibe vs. Bars
Tuesday
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February
2018

Controverse

Vibe vs. Bars

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February
2018

Controverse

Vibe vs. Bars

Vibe vs. Bars
Quelle:
Natürlich haben auch wir innerhalb der LYRICS-Redaktion verschiedene Perspektiven, wenn es um HipHop-Diskussionen geht. In der Rubrik «Controverse» vertreten jeweils zwei LYRICS-Journalisten oppositionelle Meinungen. Dieses Mal dreht sich die Diskussion um die Streitfrage: Was ist wichtiger – Vibe oder Bars?

Vibe

Wenn du dir jetzt denkst, dass eine solche Debatte ganz bestimmt ein mühsamer und unnötiger Versuch ist, eine multikausale und organische Angelegenheit (guter Rap) in seine Einzelteile zu zerlegen und dabei von verkopften Rap-Nerds nur kaputtseziert wird, dann hast du wahrscheinlich Recht. Genau das tun wir hier. Congrats an dieser Stelle, du darfst eine Seite weiter springen!

Ebenso ist mir bewusst, dass ich die zurzeit angesagte Seite einnehme. Feeling, Melodien, Vibes. Worte, die von und um Rap-Künstler bestimmt mehr genannt werden als noch vor fünf Jahren. Im Post-Swag-Zeitalter wurde es wichtig, eingängige Songs mit Refrains zu schreiben und nicht mehr nur technische Rap-Parts oder subversive Sozialkritik abzuliefern. Genres vermischen sich und die Rap-Welt öffnet sich gegenüber der Pop-Kultur. Rap sei Pop geworden, wird argumentiert. So sehen sich einige Sprechgesangsartisten heute als Musiker und nicht in erster Linie als Poeten oder MCs. Nicht selten sind erfolgreiche HipHop-Musiker auch gleichzeitig (Mit-)Produzenten ihrer eigenen Musik. J. Cole, Kanye West oder Cro, um nur einige Beispiele zu nennen. Überhaupt seien die Produzenten hinter den Acts die wahren Stars. Schliesslich spiele der Beat für den Erfolg eines Hits eine grössere Rolle als der darüber rappende Künstler. Vibes sind in. Bars rücken, natürlich abgesehen von gewissen Sub-Szenen und Ausnahmephänomenen – hat jemand Kendrick gesagt? – in den Hintergrund. Es folgt ein subjektiver Erklärungsversuch, der genre-technische Tendenzen ausklammert.

Hast du dich eigentlich schon einmal gefragt, wieso du damals in der Schule in deinem Lieblingsfach besonders gut warst? Klar, vielleicht wurde es zu deinem Lieblingsfach, weil du eben besonders stark darin warst und du es geschätzt hast, gute Noten einzuheimsen. Oder, und das ist wohl eher der Fall, du hast dich von dir aus besonders gerne mit Themen dieses Fachs auseinandergesetzt. Dir hat das Lernen an und für sich Spass bereitet und du hattest Interesse. Mit positiven Emotionen klappt’s in der Regel besser. Emotionen und Lernen sind komplex miteinander verknüpft. Auf jeden Fall haben Gefühle auf die kognitive Aufnahme von Inhalten einen Einfluss. Sagt die Wissenschaft. So auch im Rap. Du findest Rapper XY gut und dir bleiben seine Zeilen im Kopf, weil du ihn fühlst. Was ist also ausschlaggebend dafür, dass beim Zuhörenden Gefühle aufkommen?

«Form ohne Inhalt bleibt hörbar, Inhalt ohne Form nicht.»

Sowohl der textliche Inhalt eines Songs wie auch das musikalische Gewand. Soll heissen, dass man nicht nur fühlen kann, WIE jemand rappt, sondern auch, WAS jemand rappt. Will Rap gut sein, braucht er nämlich beides: Form und Inhalt. Stimmung und Aussagen. Flow und Message. Ein jeder Rapper und Fan der Kultur weiss Bescheid. Dass beide Elemente in wechselseitiger Beziehung zueinander stehen, sich gegenseitig hochschaukeln und voneinander profitieren können, scheint ebenso logisch. Eine Zeile erhält eine besondere Bedeutung, wenn sie mit Nachdruck gerappt wird. Andererseits kann der Text mit seiner Struktur und den gewählten Worten sich besonders für einen bestimmten Flow eignen. Doch – und hier kommt der springende Punkt – wird dir wohl nur im Kopf bleiben, was gerappt wird, wenn es dich auch in der Art und Weise, in seiner Erzählform und dem musikalischen Gewand, anspricht. Form ohne Inhalt bleibt hörbar, Inhalt ohne Form nicht.

Zur Verdeutlichung unternehme ich folgendes Gedankenexperiment: Man nehme einem persönlich favorisierten Song die durch den Klang der Musik und der Stimme erzeugten Vibes. Übrig bleibt eine holprige Konstruktion aus starkem Text, dessen Aussagen durch den lyrischen Aspekt, den Wortwitz, Erzählfluss, die Bedeutung und Haltung hinter den Aussagen von Interesse sind. Ein solches Stück gibt mir bestenfalls Zeilen mit, auf die ich mich inhaltlich irgendwie beziehen kann. Denkanstösse, Themen oder Geschichten, die mich interessieren. Doch trotz des interessanten Textes höre ich mir sowas vermutlich nicht mehr als einmal an. Genauso, wie ich von den wenigen Büchern, die ich gelesen habe, keines auch nur ein zweites Mal begonnen habe. Fehlt dem guten Song hingegen der Inhalt und genügt er meinem lyrischen Anspruch nicht, löst er dennoch Gefühle aus. Weil die Klänge der eingesetzten Elemente, die Stimme als Instrument eingeschlossen, der Rhythmus und die Melodien eine Stimmung erzeugen, die ins Ohr geht. Im Vergleich zur ersten Operation – welch Überraschung – höre ich mir den Song ohne Bars viel eher mehrmals an. Weil Rap Musik ist und die vermittelte Stimmung in Form von Klängen und Rhythmen die Basis für diese Musik bildet. Und ohne Basis geht’s nicht.

Bars

Die letzten Jahre der globalen und nationalen HipHop- und Rapszene hat eindrücklich gezeigt, dass der Vibe einer künstlerischen Produktion, gemeinsam mit der Ausstrahlung eines Künstlers, immer wichtiger wird. Trendresistenz und starrköpfiges Realkeepertum werden verpönt, ganze Alben ohne Autotune, Trap- und Mumblerap-Einflüsse sind überhaupt kaum mehr zu finden, melodiöse Hooks stehen an der Tagesordnung und Genregrenzen werden regelmässig gesprengt. Die Newschool-Schiene hat sich zum einfachsten Weg entwickelt, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und sich, aus Sicht der Schweizer Rapper, ein Standing in der hiesigen Szene zu verschaffen. Für Newcomer ist natürlich schnell klar, dass im Jahr 2017 ein Track, ein Tape oder sogar ein gesamtes Konzeptalbum ohne den passenden Vibe überhaupt nur noch sehr schwer funktionieren kann – mit fehlender oder fragwürdiger Message aber offensichtlich schon. Ausgehend von diesem Fact aber darauf zu schliessen, dass der Vibe die Message grundsätzlich an Wichtigkeit übersteigt, wäre aber ziemlich unüberlegt.

«Die Newschool-Schiene hat sich zum einfachsten Wegentwickelt, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.»

Was unterscheidet denn ein überdurchschnittliches Album von einem, das als eines von vielen gilt? Wie wird ein Track oder eine LP zu etwas, das auch nach dem grossen Hype von den Hörern geliebt wird und zu hundert Prozent nachvollzogen werden kann? Was ist das Erfolgsrezept, dass dich zu einem Künstler macht, der Massen beeinflusst, dir einen quasi-heroischen Ruf verschafft und dich zum Vorbild einer ganzen Community machen kann? Um diese Fragen zu beantworten, ist es lohnenswert, sich die meist gehypten, meist diskutierten, analysierten und meist gehörten Alben dieses zu Ende gehenden Jahres genauer anzusehen.

Wer um die Zeit vor und nach Ostern nicht gerade auf einer einsamen Insel Robinson Crusoe gespielt hat, ist keinesfalls an Kendrick Lamars «DAMN.» vorbeigekommen. Rund zwei Jahre nach seinem Über-Werk «To Pimp A Butterfly» hat King Kunta ein Album geschaffen, das in Sachen musikalischer Verkopftheit und seinem Drang nach Perfektion zumindest ansatzweise zugunsten des Vibes angepasst wurde. Das ändert aber nichts an Kendricks Grundeinstellung, in jedem seiner Track eine Message einzubauen, die seinen Charakter, seinen Verstand und seine Meinung zu politischen sowie persönlichen Themen Kund tut – weshalb sein Projekt auch von sämtlichen Plattformen überanalysiert wurde und so präsent war wie kein anderer Longplayer.

Im deutschsprachigen Raum sind in letzter Zeit vor allem zwei Alben vermehrt in allen möglichen Medien aufgegriffen worden: Trettmanns «#DIY» und Cro mit «tru.». Letzterer wurde in der Vergangenheit nicht nur wegen der Austestung von Genregrenzen kritisiert, sondern ausserdem, weil seine Texte früher oft wenig Tiefgang mit sich brachten, zu unrealistisch und dadurch unnahbar waren – und «Cro» so zu einer Figur wurde, die anscheinend noch gar nicht richtig im realen Leben angekommen war. Das kann man bei «tru.» nicht mehr behaupten und genau dieser Aspekt wurde in jedem einzelnen Review hervorgehoben und gelobt: Cro wurde menschlich, erwachsen, und kann nun endlich kritisch über sich und sein Leben als Künstler reflektieren.

Trettman hat mit «#DIY» ein Album geschaffen, das perfekt in dieses Jahr passt – Autotune wird als typisches Merkmal eingesetzt, die Features schreien nach New-School und Trend – das wirkliche Zuhören bleibt nicht obligatorisch, sondern wird zur Option für jeden Rezipienten. Wenn man diese Chance ergreift, wird man jedoch reichlich belohnt: Gerade die Texte sind das, was einem Trettmanns Musik sowie den musikalischen und persönlichen Weg zum Erfolg des Ostdeutschen nachvollziehen lässt. Das Projekt kann sich so erst innerhalb der Szene abheben und wird wirklich spannend.

Natürlich ist es für jeden Künstler riskant, sich nicht nur auf den richtigen Vibe, sondern auch auf die richtige Message zu konzentrieren – es ist immer möglich, dass man mit seiner Meinung plötzlich Hate auf sich zieht oder die intendierte Message falsch aufgenommen wird. Natürlich bedeutet es mehr Aufwand, natürlich setzt es ein Fünkchen Verstand und lyrisches Talent voraus. Es ist immer schwieriger, mit beiden Faktoren, Vibe und Message aufzutrumpfen und selbstverständlich kann ein auf Lyrik konzentriertes Werk auch sehr schnell in die Hosen gehen. Man wird als Künstler sehr viel stärker exponiert und gibt sich selbst ein Gesicht. Dafür – und das ist der Grund, weshalb die Bars und die Message eines Rappers mindestens genauso wichtig sind wie der Vibe – kann man, wie die obigen Beispiele zeigen, die Rapszene erst richtig überzeugen. Man präsentiert nämlich, dass man genau diesen Mut aufbringt, sich nicht hinter unklaren Statements zu verstecken, und vor allem, dass man etwas zu sagen hat. Man macht sich nicht nur zum Künstler, sondern auch zum Mensch. Und wenn dieses Projekt gelingt, kann man sich für eine ganze Subkultur unsterblich machen.

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